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Artikel der SZ zur SoPoDi-Veranstaltung 'Der Bildungsauftrag im Kinder-und Jugendhilfegesetz...'

Mehr Bildung oder bessere Erziehung?


Experte: Kindergärten und Krippen sind der öffentlichen Fürsorge zuzuordnen

Von Sven Loerzer

Bildung, Bildung über alles? Das Bestreben von Schulpolitikern, die Kinderkrippen aus dem Sozialreferat dem Schulreferat einzuverleiben und dort mit dem Kindergartenbereich zu fusionieren, steht offenbar im Widerspruch zur Gesetzeslage. Der angesehene Rechtsexperte Reinhard Wiesner, Ministerialrat im Bundesfamilienministerium und Vater des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, machte bei einer Veranstaltung des Sozialpolitischen Diskurses deutlich, dass Kindergärten und Krippen der öffentlichen Fürsorge zuzuordnen sind: Damit aber wäre das Jugendamt im Sozialreferat für die rund 55 000 Betreuungsplätze zuständig.

Hinter dem Zuständigkeitsstreit steht der Konflikt zweier unterschiedlicher Ansätze: Die auf Leistung und Auslese angelegten Schulen bieten Bildung, aber benachteiligten Kindern viel zu wenig Förderung, während die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zwar auch die Bildung, aber vor allem das Sozialverhalten und das Kindeswohl im Blick haben. Zuspitzen lässt sich das auf die Frage: Was ist wichtiger, zuallererst mehr Bildung oder bessere Förderung und Erziehung?

 

Bislang haben SPD und Grüne nur verabredet, eine Grundsatzentscheidung bis Ende des Jahres zu treffen. Am Mittwoch soll der Stadtrat über einen interfraktionellen Arbeitskreis und eine Fachtagung entscheiden. In der Auseinandersetzung zwischen Schul- und Sozialpolitikern bekamen letztere jetzt starke Unterstützung. Ohne auf den Streit konkret einzugehen, stärkte der Berliner Experte die Position von Jugendamtschefin Maria Kurz-Adam und Sozialreferent Friedrich Graffe (die SZ berichtete) ganz erheblich. Wiesner konnte sich dabei auf das Bundesverfassungsgericht berufen, das sich in einer Entscheidung vom 10. März 1998 (Az: 1 BvR 178/97) klar geäußert hat.

Kindergartenbetreuung solle nicht nur "das körperliche, geistige und sittliche Wohl" fördern, sondern auch Entwicklungsschwierigkeiten und Gefährdungen vorbeugen, heißt es da. "Sie hilft den Eltern bei der Erziehung, fördert und schützt die Kinder und trägt dazu bei, positive Lebensbedingungen für Familien mit Kindern zu schaffen", betonte das Gericht. Der Kindergarten präge das spätere Sozialverhalten in hohem Maße und diene im Sinne des Kinder- und Jugendhilfegesetzes der präventiven Konfliktverhütung. Der vorschulische Bildungsauftrag des Kindergartens müsse dahinter zurückstehen. Somit seien Kindergärten der öffentlichen Fürsorge zuzuordnen, zitierte Wiesner die Entscheidung. Damit aber fallen Kindergärten in die Zuständigkeit des Jugendamts.

Wenn schon der Kindergarten der öffentlichen Fürsorge zuzuordnen sei, "dann gilt dies erst recht für die Förderung von Kindern unter drei Jahren", bekräftigte Wiesner. Dies spiegele auch das neue Kinderförderungsgesetz wieder, das den Ausbau der Betreuung für Kinder unter drei Jahren beschleunigen soll. Wiesner zog deshalb das Fazit: "Die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen ist ein integraler Bestandteil der Kinder- und Jugendhilfe."

Die Schulen kümmerten sich kaum um schwierige Kinder, klagte der Mitarbeiter eines Jugendhilfeträgers in der Diskussion. "Immer häufiger fallen Kinder schon mit zwölf oder 13 Jahren aus den Regelschulen heraus." Ausgeschlossen vom Schulbesuch, bleiben den Kindern damit auch formale Bildungsabschlüsse und so Chancen auf eine bessere Zukunft versagt. Die zunehmenden Schulausschlüsse betrachtet Wiesner als Bankrott des Schulsystems: "Hier müsste eine Umsteuerung stattfinden, um diese Selektion nicht weitergehen zu lassen."


Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.163, Dienstag, den 15. Juli 2008 , Seite 43